
Die Pariserinnen Céline Steyer (Ella Rumpf) und Nadia Hamadi (Monia Chokri) sind Pionierinnen. Als der französische Verfassungsrat das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe, das zuvor von der Nationalversammlung verabschiedet worden war, am 17. Mai 2013 bestätigt, zählen sie zu den ersten, die sich trauen lassen. Diese Entscheidung erleichtert das Leben des Paars, das in einem kleinen Apartment in einem Hochhaus wohnt, allerdings nur auf dem Papier. Denn ein knappes Jahr später müssen sie den Paragrafendschungel, der die Geburt ihres ersten Kindes begleitet, lichten. Obwohl die zwei verheiratet sind und Nadia Célines Nachnamen angenommen hat, wird das Kind, weil Nadia es austrägt, nach der Geburt ihren Mädchennamen tragen. Um überhaupt das Sorgerecht zu erhalten, muss Céline das Kind nach der Geburt adoptieren. Doch dafür muss das Paar seine Beziehung vor dem zuständigen Familiengericht erst einmal beweisen – mit Fotos, Dokumenten und insgesamt 15 schriftlichen Erfahrungsberichten von Freunden, Bekannten und Verwandten. Ein solcher Bericht von Célines Mutter, der berühmten Pianistin Marguerite Orgen (Noémie Lvovsky), käme dem Paar besonders gelegen. Doch zwischen Mutter und Tochter herrscht schon länger Funkstille.
Kleine Liebesbeweise …
Der Grat zwischen gesellschaftlichem Fortschritt und Rückschritt ist schmal – und lässt sich bei den 78. Internationalen Filmfestspielen von Cannes bereits auf dem roten Teppich ablesen. Schützt der im Jahr 2025 noch einmal verschärfte Dresscode Frauen vor Sexismus oder einfach nur die Augen prüder Moralapostel vor zu viel nackter Haut? Ist das nun eine progressive oder eine reaktionäre Kleiderpolitik, die hier an der Croisette betrieben wird? Wie dem auch sei, wichtiger ist ohnehin, was auf der Leinwand passiert. Und dort erzählt die Regisseurin Alice Douard in ihrer Tragikomödie Love Letters von viel gravierenderen Eingriffen. Ihre von Ella Rumpf und Monia Chokri gespielten Protagonistinnen lassen sich zwar nicht vorschreiben, was sie anziehen dürfen, sehr wohl aber, über welche vom Gesetzgeber hingehaltenen Stöckchen sie zu springen haben. Im Frühjahr 2014, in dem dieses Langfilmdebüt spielt, ist die gleichgeschlechtliche Ehe in Frankreich zwar erlaubt. Um als gleichgeschlechtliches Paar gemeinsam ein Kind großzuziehen, müssen die zwei Frauen aber einige Schikanen umschiffen.
Douard wirft ihr Publikum mitten hinein in einen Geburtsvorbereitungskurs und hüpft von dort leichtfüßig durch den ganz normalen Beziehungsstress eines Durchschnittspaares. Die von Rumpf gespielte Céline arbeitet in einem Pariser Nachtklub als DJane und Toningenieurin, die von Monia Chokri verkörperte Nadia als Zahnärztin. Sie sind weder zu reich noch zu arm, weder zu jung noch zu alt, weder zu hübsch noch zu hässlich, sondern exakt so, dass wirklich jedes Publikum an diese beiden andocken kann – nicht zuletzt deshalb, weil ihre Sorgen so alltäglich sind. Einem gleichgeschlechtlichen Paar, dessen Beziehung weder um ein Coming-out kreist, noch um familiäre Widerstände oder um eine schwere Krankheit, die einen der Partner (als Strafe für die „verbotene“ Verbindung) ereilt, im Kino bei ebendieser Beziehung zusehen zu dürfen, ist schlicht und ergreifend erfrischend. Denn selbst 2025 ist das eher die Ausnahme als die Regel.
Und angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks, der sich nicht nur Frankreich in den vergangenen zwölf Jahren vollzogen hat, nimmt man als Kinozuschauer die im Film vorgeführte außerordentliche Rechtslage gern in Kauf. Zum einen muss selbst in der durchschnittlichsten Beziehung aus dramaturgischen Gründen ein bisschen Drama sein. Zum anderen führt uns Alice Douard in ihrem Debüt damit vor Augen, wie schnell hart erkämpfte Freiheiten wieder verloren gehen können.
… an die Zweisamkeit, das Leben und das Kino
Love Letters, der in der Sektion Semaine de la critique außer Konkurrenz gezeigt wurde, beweist, wie unterhaltsam es sein kann, zwei Durchschnittstypen bei ihrer Beziehung zuzusehen. Neben den großartig aufgelegten Ella Rumpf, Monia Chokri und Noémie Lvovsky als Célines abwesende bis abweisende Mutter, die allesamt sehr natürlich agieren, liegt das am von der Regisseurin mitverfassten Drehbuch und an ihrer Inszenierung. Gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Laurette Polmanss (In den besten Händen) trifft Alice Douard stets den richtigen, oft beschwingten und leicht ironischen Ton, ohne ihre Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben. In dieser Beziehung wird gelacht, geraucht, getrunken, getanzt, gezockt, gestritten und geliebt. Es werden sich berechtigte und unberechtigte Sorgen gemacht, Freunde und Familie besucht und jede Menge Situationskomik daraus gezogen. Die Stimmung wird nicht selten von der Musik vorgegeben. Die trällert bald locker-leicht aus dem Off dazu, bald ist sie Teil der Szene, wenn Célines Mutter, eine berühmte Pianistin, am Klavier sitzt und das Geschehen – ob beabsichtigt oder unbewusst ist der Interpretation des Kinopublikums überlassen – mit einem Stück von Beethoven kommentiert.
Der internationale Titel Love Letters ist übrigens nicht optimal gewählt. Im französischen Original heißt diese Tragikomödie Des preuves d’amour, also Liebesbeweise. Denn genau diese sind es, die Céline und Nadia sich nicht nur gegenseitig erbringen, sondern die das Paar auch dem Familiengericht schuldig ist. Alice Douards Debüt wiederum steckt voller kleiner, aber feiner Liebesbeweise an die Liebe, das Leben und das Kino.
OT: „Des preuves d’amour“
Land: Frankreich
Jahr: 2025
Regie: Alice Douard
Drehbuch: Alice Douard, Laurette Polmanss
Kamera: Jacques Girault
Besetzung: Ella Rumpf, Monia Chokri, Noémie Lvovsky
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